Geschichte der WGTh
Ende 1972 ergriff eine Gruppe von Vertretern aller Fächer der evangelischen Theologie aus verschiedenen evangelisch-theologischen Fakultäten Deutschlands die Initiative zur Gründung einer wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie. Diese Initiativgruppe umfaßte in ihrer erweiterten Form für das Fach Altes Testament die Professoren Otto Kaiser und Klaus Koch, für das Neue Testament die Professoren Eduard Lohse und Peter Stuhlmacher, für die Kirchengeschichte die Professoren Georg Kretschmar und Bernd Moeller, für die Systematische Theologie (Abteilung Dogmatik) die Professoren Gerhard Sauter und Joachim Staedtke, für die Systematische Theologie (Abteilung Sozialethik) die Professoren Trutz Rendtorff und Heinz Eduard Tödt sowie für die Praktische Theologie die Professoren Dietrich Rössler, Manfred Seitz und Peter C. Bloth, für die Religionspädagogik Professor Eberhard Hübner und für die Religionswissenschaft und Missionswissenschaft Professor Hans-Werner Gensichen. Der Gründungsaufruf fand ein so breites Echo, daß schon ein dreiviertel Jahr später, am 29. Juni 1973, die Gründungsversammlung in Göttingen stattfinden konnte. Auf ihr wurde der Gründungsvorstand gewählt, bestehend aus Prof. Dr. Dr. Wenzel Lohff (Vorsitzender), Landesbischof Prof. Dr. Eduard Lohse (stellvertretender Vorsitzender), Prof. Dr. Georg Kretschmar (Schriftführer) und Prof. Dr. Otto Kaiser (Schatzmeister). Unter dem 1.Juli 1973 erging die Einladung zum Beitritt an alle Hochschullehrer der evangelischen Theologie in Deutschland. Im Einladungsschreiben heißt es: Die Gesellschaft wurde "für den deutschsprachigen, insbesondere evangelischen Bereich" gegründet, aber "grundsätzlich soll die Gesellschaft auch Theologen anderer Konfessionen und Regionen offenstehen". Es wird der Hoffnung Ausdruck gegeben, "daß sie sich als eine Institution interkonfessioneller Zusammenarbeit erweisen wird". Die positive Resonanz übertraf die optimistischsten Erwartungen und bewies, daß die Gründung der Gesellschaft einem in der deutschsprachigen evangelischen Theologie im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts weitverbreiteten Bedürfnis genau entsprach.
Seit Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre war die Generation der damals knapp oder gut Dreißigjährigen in die Verantwortung eingerückt, eine Generation, die noch ganz anders als die Generation ihrer Väter - nämlich von klein auf - durch das persönliche Erleben des Nationalsozialismus geprägt war. Jene Vätergeneration - soweit sie im Widerstand gegen die Diktatur gestanden hatte und von den Siegermächten mit der Neuordnung der Verhältnisse in Deutschland beauftragt worden war - hatte die Fundamente der deutschen Nachkriegsordnung durch einen - rückblickend manch einem restaurativ erscheinenden - Brückenschlag zu den 1933 abgebrochenen Traditionen gelegt. Demgegenüber machte der Reformimpuls, der ruckartig seit Beginn der 60er Jahre von der jungen Generation der damals Dreißigjährigen ausging und sofort auf breiter Front spürbar wurde, deutlich, daß für sie das Gesetz und die Forderung der Gegenwart nicht mehr in erster Linie lautete: Besinnung auf das Bewährte und seine Neuaneignung, sondern zuerst und zuletzt: Modernisierung, frei von jeder Bevormundung durch die Autorität von überlieferten institutionellen und weltanschaulichen Vorgaben allein auf dem aufgeklärten Boden von Erfahrung und Vernunft, und zwar in jedem Streitfall wissenschaftlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Vernunft. Wiederum zehn Jahre später, Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre, war dann diese unbedingte Entschlossenheit, jede Forderung der Modernisierung anzunehmen und zu meistern, und zwar in kritischer Selbständigkeit, übergesprungen auf die junge Generation der damals Zwanzigjährigen, die Krieg und nationalsozialistische Diktatur nur als Kinder oder gar nicht mehr selbst erlebt hatten. 1950 konnten noch Erwägungen über "das Ende der Neuzeit" veröffentlicht werden, aber seit Anfang der 70er Jahre war das geistige Leben so gut wie ganz und jedenfalls in seinem Hauptstrom gerade umgekehrt von der Überzeugung der Irreversibilität der neuzeitlichen Zivilisation und ihrer rasanten Dynamik beherrscht, über alle Einschätzungs- und Richtungsgegensätze hinweg. Es ist von dieser Überzeugung bis heute geprägt und wird es auf unabsehbare Zeit bleiben.
Rückblickend präsentieren sich also die späten 60er und frühen 70er Jahre als diejenigen, in denen auch im deutschsprachigen Raum das Schicksal der Modernisierung erstmals als unausweichliche Bewegung der Geschichte rückhaltlos anerkannt wurde - über alle tiefen Gegensätze im Verständnis dieser Herausforderung und der Wege zu ihrer Meisterung hinweg.
All dies brachte auch die Verhältnisse in Christentum, Kirche und Theologie zum Tanzen. Damals wurde von einem großen und jedenfalls dem maßgeblichen Teil der Intellektuellen auch in Westdeutschland vollzogen, was zuvor schon - zunächst durch den gesamtdeutschen Staatsatheismus seit 1933 und dann durch den Staatsatheismus der DDR - vollzogen worden war: die Verabschiedung des Lebensverständnisses der christlichen Überlieferung aus dem Bereich des öffentlich Maßgeblichen und seine strikte Begrenzung auf den Bereich des .öffentlich Irrelevanten und Privaten. Diese Einschätzung bei der Mehrheit der damals jungen westdeutschen Intelligenz erfolgte stillschweigend, aber faktisch - und mit dem heute spürbaren Langzeiteffekt. Damals wurden zuerst die grundlegenden Anfragen an die deutsche Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat laut, die damals noch gelassen ertragen, ja als sektiererisch abgetan werden konnten, deren öffentlicher Druck heute jedoch übermächtig geworden zu sein scheint. Damals entsprang der Ruf nach Reform der Ordnung und Verfassung der Kirche. Damals zeitigte der damit verbundene Ruf nach Reform der theologischen Ausbildung erste institutionelle Konsequenzen. Damals setzte innerhalb der Theologie selbst die durch das Stichwort "empirische Wende" nur umrißhaft angedeutete komplexe Traditionskritik und Methodenrevision ein, deren Konsequenzen bis heute noch nicht angemessen durch- und aufgearbeitet sind. Damals wurden die Institutionen öffentlicher Bildung dem kontinuierlichen Reformprozeß ausgesetzt, der seitdem zugleich mit den Veränderungen im Bereich der Kirchen die Institutionen der wissenschaftlichen Theologie unter Druck setzt - heute in verschärfter Weise, Und schließlich intensivierten eben auch jene Jahre die Suche nach Wegen, auf denen die christlichen Konfessionen gemeinsam den Herausforderungen der Modernisierung gerecht werden können, jene Suche, die zwar unter dem Titel "Ökumenische Bewegung" bereits wesentlich älter war, aber durch den Beitritt der römisch-katholischen Kirche eine neue Brisanz und Dynamik erhalten hatte. Der bevorstehende Jahrtausendwechsel mag Anlaß für mannigfaltige zeitdiagnostische Überlegungen geben - sie alle aber dürften nichts an der Einsicht ändern, daß die geschichtliche Bewegung, die uns über den Jahrtausendwechsel hinweg und weit in das neue Jahrtausend hineintragen wird, eben diejenige Dynamik uneingeschränkter, gesellschaftlich anerkannter, bejahter und geförderter Modernisierung ist, die just im Wechsel der 60er zu den 70er Jahren auch den deutschsprachigen Raum endgültig und unwiderruflich ergriffen hatte und der inzwischen - nach den Ereignissen von 1989 - auch Osteuropa erfaßt hat und nun globale Ausmaße annimmt.
Die Gründung der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie verdankt sich den Erfahrungen und Impulsen jener Jahre. Die Besinnung darauf und auf die Umstände der Gründung und die Breite der Initiative stellt drei Dinge außer Zweifel: Es handelte sich bei der Gründung nicht um die Angelegenheit einer einzelnen theologischen Schule oder Richtung. Vielmehr war die Gründung der Gesellschaft der Versuch der gesamten wissenschaftlichen Theologie im evangelischen und deutschsprachigen Raum, sich "zusammenzunehmen- über die Differenzen aller Schul- und Fachrichtungen hinweg und sich als sachverpflichtete institutionelle Einheit auf sich selbst zu besinnen, d.h. auf ihre genuinen Aufgaben, und sich als die in der Sache begründete Einheit, die sie tatsächlich ist, auch für die Öffentlichkeit darzustellen. Weiter steht außer Zweifel, daß es sich bei der Gründung gerade nicht um ein Schutz- und Trutzbündnis gegen den Zug der Zeit handelte, sondern umgekehrt um eine Maßnahme, die es der Theologie erleichtern sollte, die Aufgaben zu erkennen, anzunehmen und zu meistern, die ihr durch den anlaufenden Modernisierungsprozeß gestellt werden. Und schließlich wird außer Zweifel gestellt, daß diese Offenheit nicht etwa Ausdruck eines prinzipienlosen Modernismus war, der seine Maßstäbe aus den wechselnden Konjunkturen des Zeitgeistes bezieht. Vielmehr war die die Neugründung kennzeichnende Offenheit und Zuversicht in dem einfachen Vertrauen begründet, daß es just das christliche und evangelische Erbe selbst ist, welches die Treue zu ihm mit der Fähigkeit belohnt, jedem geschichtlichen Wandel in der besonnenen und umsichtigen Vernünftigkeit eines Christenmenschen gerecht werden zu können - "Gott zum Lobe und dem Nächsten zu Nutz".
Der Blick auf die thematische Arbeit der Gesellschaft auf den bisherigen Kongressen belegt, daß und wie die Gesellschaft diesem Gründungsimpuls treu geblieben ist. Der erste Kongreß fand nach nicht einmal einjähriger Vorbereitungszeit vom 2. bis 4. April 1974 in Göttingen statt, unter dem Thema "Gegenwärtiger Stand und Tendenzen evangelischer Theologie". Es folgte die Behandlung theologischer Anthropologie auf dem zweiten Kongreß vom 4, bis 8. Oktober 1976 in Wien. Der dritte Kongreß, vom 2. bis 6. April 1979 in Göttingen, stand unter dem Thema "Ortsbestimmung europäischer Theologie". Es folgte die Behandlung des Themas "Glaube und Toleranz. Das Erbe der Aufklärung- auf dem vierten Kongreß im Herbst 1981 in Wien. Der fünfte Kongreß, Herbst 1984 in Zürich, stand unter dem Thema "Charisma und Institution", der sechste - Herbst 1987, wiederum in Wien - unter dem Thema "Mythos und Rationalität". Der siebte Kongreß fand im Herbst 1990, kurz vor der Vereinigung, in Dresden zum Thema "Sola scriptura" statt. Der achte Kongreß, vom 20. bis 24. September 1993 in Wien, behandelte "Pluralismus und Identität", und der neunte, vom 16. bis 20. September 1996 in Berlin, die Trias "Recht - Macht - Gerechtigkeit". Der rote Faden dieser thematischen Arbeit ist das Eingehen auf Problemlagen, die aus dem laufenden Modernisierungsprozeß resultieren und unserer Einschätzung zufolge nicht nur die Theologie, sondern das Ganze der gesellschaftlichen Öffentlichkeit - ihre strukturelle Verfassung sowie ihre geistige und emotionale Lage - betreffen. Die Leitfrage war stets, was diese Problemlagen für das Verständnis unseres Erbes bedeuten und was umgekehrt dieses Erbe für das Verständnis gegenwärtiger Problemlagen beiträgt.
Die Thematik des zehnten Europäischen Theologenkongresses - "Menschenbild und Menschenwürde" - vom 26.-30 September 1999 in Wien setzt diese Linie fort.
Prof. Dr. Eilert Herms
aus: Eilert Herms (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde. Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Band 17. Gütersloh 2001, S. 9-12.